A rhythmic solo for exercising desire
Interview mit Marlene Monteiro Freitas
Im Gespräch mit MARLENE MONTEIRO FREITAS, Choreographin, Performerin von Guintche. Geführt von Anita van Dolen, Kuratorin des Festivals im Bereich Tanz.
Was bedeutet Guintche?
Guintche ist ein Wort aus der kreolischen Sprache auf den Kapverden. Es steht für einen Vogel, eine Prostituierte oder eine Lebenseinstellung. Es gibt einen Vogel, der Fische frisst, namens Guintche, Prostituierte nennt man üblicherweise Guintche. Bei der Lebenseinstellung geht es darum, Entscheidungen zu treffen, sofern sich die Gelegenheit dazu bietet, und nicht darum, sich von einem Bedürfnis oder dem Wunsch nach Kohärenz leiten zu lassen. Von den dreien dominiert für mich: Bewegung.
In Guintche zeigst du uns eine Choreografie für Gesicht/Oberkörper, während sich dein Körper ab den Hüften in einem anderen Rhythmus bewegt. Wie hast du diese mehrschichtige Choreografie, in der du den Körper aufteilen, erarbeitet?
Der Gegensatz zwischen Ober- und Unterkörper in Guintche könnte sich analog zu Musik, einer Skulptur oder einer Zeichnung verhalten. Wie beispielsweise ein stabiler, geradliniger Rhythmus unterschiedliche Melodien hervorbringt oder trägt; eine Wachsskulptur, die schmilzt und sich wieder festigt, ihre Form ändert, während das Wachs immer gleich bleibt; oder eine gezeichnete Linie Formen definiert und verzerrt, dadurch verschiedene Bilder hervorbringt und/oder verschwinden lässt, während die Linie stets gleich bleibt. Das war eine Methode, um einen wichtigen und quer laufenden Aspekt der Arbeit zu vertiefen: Hybridität. Ein Nebeneinander von ungleichen, widersprüchlichen Elementen.
Welche Funktion nimmt die Musik in diesem Stück ein?
Musik und Choreografie sind ineinander verwoben, sie beeinflussen sich gegenseitig, unterstützen und sabotieren einander. Sie ermöglichen Anstieg und Freilassung von Spannung und intensivieren die Erfahrung des Stücks. Aus dieser Beziehung entsteht ein buntes Spektrum von Figuren: eine Vogel-Puppe, ein Vogel-Clown, ein Vogel-Roboter, ein Vogel-Turner und viele andere, die sich in deren Zwischenräumen aufhalten. Musiker:innen sehen mich die ganze Zeit über, ich höre sie die ganze Zeit. Ich habe Guintche jahrelang mit aufgezeichneter Musik aufgeführt, doch seitdem ich das mit Cookie und Simon – zwei sehr talentierten Musikern – mache, hat sich der Dialog zwischen Tanz und Musik intensiviert.
Du hast einmal gesagt, wenn du keine Choreografin wärst, wärst du Psychiaterin. Wie erforschst du in deinen Stücken menschliches Verhalten?
Ich stelle Gesten und Haltungen dar und gebe Figuren und Verhaltensweisen einen Körper. Während die einen mir sehr vertraut sind, sind mir die anderen fremd. Die Bewegung zum Seltsamen, Unbekannten hin und das Nebeneinander von Fremdem und Vertrautem befördern einen Übersetzungsprozess und somit auch ein tieferes Verständnis von den Dingen. Von Projekt zu Projekt praktiziere ich das Zusammentreffen unterschiedlicher Elemente, das in anderen Kontexten, zum Beispiel außerhalb des Theaters, nur schwer möglich wäre. Ich denke, diese Begegnungen und Kombinationsmöglichkeiten sind unendlich. Indem man sie ausübt, entwickeln, dehnen, nähren sie vielleicht eine bestimmte Art von Muskeln, wie beispielsweise den Verdrängungsmuskel, den Neugierdemuskel und den Muskel der Empathie.
In all deinen Arbeiten sind Elemente des Karnevals und des Cartoons zusammen mit exzentrischen Kostümen und himmlischem Make-up zu finden.Warum diese Sichtbarkeit?
Kostüme und Make-up werden für jedes Projekt spezifisch entworfen. Mit einer Choreografie bauen wir eine fiktive Welt, in der Licht, Sound, Bühnenbild, Kostüme, Make-up und Choreografie genauso eine Rolle spielen wie das Cartooneske, Karnevaleske und Träume. Cartoons hinterfragen Konzepte, die wir für selbstverständlich halten: die Schwerkraft, Leben/Tod, die Abfolge von Ereignissen. Im Karneval werden Vorstellungen von Ordnung und sozialem Status permanent aufs Spiel gesetzt und im Traum ist der Zusammenhang zwischen Situationen und Gefühlen oftmals nicht wirklich auf einer Linie mit den Regeln unseres Geistes im Wachzustand. Dies sind Räume, in denen die Fiktion die Realität, wie wir sie kennen, in Frage stellt und neue Möglichkeiten schafft. . Für mich ist das Theater ein weiterer dieser Räume.
Was soll das Publikum fühlen und denken, nachdem es deine Performances erlebt hat?
Manche fühlen sich energiegeladen, andere erschöpft. Manche haben Lust, zu tanzen, andere fühlen sich, als hätten sie selbst stundenlang getanzt. Manche sind verstört oder traurig, andere fühlen sich befreit, freudig, motiviert. Die Menschen reagieren alle unterschiedlich, oft sogar völlig gegensätzlich. Die Arbeit soll weder eine spezifische Botschaft noch eine einzelne Bedeutung transportieren – sie ist offen für vielfältige Interpretationen. Mir bedeutet es wirklich viel, wenn die Menschen ausdrücken, was sie in der Arbeit gesehen oder gefühlt haben, selbst wenn diese Meinungen weit weg von dem sind, was ich mir dabei gedacht habe, als ich sie choreografiert oder aufgeführt habe. Für mich finden die Vorstellungen für gewöhnlich in einer Art „dritten Raum“ statt: dort, wo das, was von der Bühne ausgesendet wird, und das, was das Publikum in den Raum einbringt, frei zusammenstößt, sich trifft, erschüttert und dabei Energie freisetzt. Zwischen Bühne und Zuschauerraum findet jede Vorstellung ein unbekannter Paartanz statt. In Theatern bekommen wir die Gelegenheit, gemeinschaftlich Angst auszutreiben und gemeinschaftlich Begehren auszuleben – und diese Chance ergreife ich mit Vogelkrallen.