AB INS UNBEKANNTE
Ein Gespräch zwischen der Lyrikerin und Singer-Songwriterin PJ Harvey und Ruhrtriennale-Intendant Ivo Van Hove
Zwei ikonische Künstler:innen unserer Zeit unterhalten sich über ihre Freundschaft, zurückliegende Kollaborationen und die bevorstehende Premiere ihrer neuen Ko-Kreation I Want Absolute Beauty. Ein Gespräch zwischen der Lyrikerin und Singer-Songwriterin PJ Harvey und dem neuen Intendanten der Ruhrtriennale Ivo Van Hove.
PJ HARVEY: I Want Absolute Beauty. Fangen wir beim Titel an. Wie bist du darauf gekommen?
IVO VAN HOVE: Das ist aus einem deiner Interviews. Ich fand das ganz wunderbar, weil es Hoffnung und Zukunft vermittelt. Durch alle deine Songs schimmert immer eine Art von Zukunft, auch wenn Chaos herrscht oder wir um die Dinge kämpfen müssen, die wir begehren. Das endet nie in einer Katastrophe. Es gibt immer noch einen Drang nach Schönheit.
PJH: Wie nett, das zu hören, Ivo. Wir beide streben danach, etwas von Schönheit zu erschaffen. Damit meine ich etwas, das die Menschen berührt und bewegt, etwas, das echt ist. Am Ende läuft es immer auf Schönheit und Liebe hinaus. Diese Kraft treibt mich an, das Wesen unseres Daseins zu finden, und das, was wir aus der Zeit, die wir haben, machen können.
IVH: Ich kenne deine Arbeit sehr gut, trotzdem habe ich mir alle deine Alben nochmal angehört. Ich habe mir die Songs rausgesucht, zu denen ich sofort eine Verbindung hatte. Und in diesem Prozess hat sich eine Geschichte, ein Erzählfaden, abgezeichnet. Ich habe zwischen deinen Alben hin- und hergewechselt. Manchmal – ohne dass ich mir dessen bewusst war – habe ich die Songs genau in die Reihenfolge gebracht, die du vorgesehen hattest. Für I Want Absolute Beauty habe ich 28 deiner Songs von unterschiedlichen Alben und ein Gedicht ausgewählt. Die Suche ist noch nicht abgeschlossen und wir machen damit während der Proben in Bochum weiter. Durch diese Erkundungsreise habe ich begriffen, wovon deine Songs handeln. Männer sind ein zentrales Thema. Dennoch bist gleichzeitig du im Zentrum in Gestalt verschiedenster Nebenfiguren.
PJH: Als Autorin bin ich es gewohnt, mich in andere Figuren hineinzuversetzen, um Gefühle oder einen Weg zu erforschen. Darum entwerfe ich im Kopf Figuren und schlüpfe in sie hinein, um mich in sie zu verwandeln. Das können Männer, Frauen oder auch Tiere sein. Das wechselt kraft der Fantasie in verschiedenste Zustände und Körper, sodass man die Welt auf unterschiedlichen Wegen erfahren kann. Das ist sehr befreiend. Mich interessiert, inwieweit du die Songs ausgewählt hast mit dem Wissen um eine grobe Handlungsskizze, die du schon entwickelt hast.
IVH: Für gewöhnlich bin ich sehr verkopft, doch in diesem Fall habe ich alles losgelassen und bin meinem Instinkt und meinen Impulsen gefolgt.
PJH: Ich glaube an solche Dinge, wie, dass sich unterschiedliche Wege zur richtigen Zeit kreuzen. Es fühlt sich so an, als hätte I Want Absolute Beauty so oder so passieren müssen, denn als du für einen kurzen Aufenthalt in London warst, war ich auch zufällig dort – und die Tanzkompagnie (LA)HORDE, die im Southbank Centre aufgetreten ist und jetzt Teil von diesem Projekt ist. Nur deswegen haben wir beide sie gesehen. Eben solche Zufälle, die sich plötzlich auftun.
IVH: Genauso lief es mit Sandra Hüller, die wir für die Hauptrolle besetzt haben. Glücklicherweise kannte ich sie schon. Wir haben vor ungefähr zehn Jahren zusammen an einem Stück in München gearbeitet. Ich wusste, dass sie singen kann, weil sie mit jemandem gesungen hatte, der zu der Zeit, als ich in Deutschland gearbeitet hatte, das Sound Design gemacht hat. Also wusste ich um ihr Gesangstalent. Du hattest eine sehr konkrete Vorstellung von der Art der Stimme, die deine Songs singen soll. Und als ich Sandra vorschlug, warst du sofort überzeugt.
PJH: Sandra ist eine Naturgewalt. Welcher Sache sie sich auch hingibt, sie ist dabei extrem charismatisch, kraftvoll und emotional mitreißend. Ich wusste einfach, dass sie sich die Songs zu eigen machen würde, als die Figur, die sie zu jenem Zeitpunkt auf dieser Bühne verkörpert, und das auf eine vollkommen glaubwürdige Art. Und ich denke, genau das hat es gebraucht. Ich denke, dass technisch ausgebildete Sänger:innen oft den rohen emotionalen Kern – was technisch nicht immer ganz perfekt klingt – umgehen können. Mir ist es lieber, jemanden zu hören, die:der aus der Seele heraus und dabei leicht schief singt, als jemanden, die:der perfekt, für mich jedoch ohne Seele singt.
IVH: Wie würdest du das Gefühl beschreiben, wenn du deine Songs und Texte hörst – jedoch neu interpretiert?
PJH: Wenn ich ein Stück vollendet habe und die Songs hinaus in die Welt schicke, liebe ich es, dass sie nicht länger zu mir gehören und ich nicht mehr das Gefühl habe, sie kontrollieren oder mich an ihnen festhalten zu müssen. Sie sind jetzt in der Welt, damit andere sie an sich nehmen, benutzen, interpretieren, ihr eigenes Leben durch sie hindurch betrachten. Für mich ist das eine wunderbare Belohnung. Ich sehe die Freude, sehe, was die Menschen durch diese Werke erforschen und von sich preisgeben – Werke, bei denen ich mitgeholfen habe, sie in die Welt zu bringen, damit andere sie benutzen können. Jetzt wird daraus – wie soll ich das nennen, Ivo? Musiktheater?
VH: Ich suche noch nach der richtigen Bezeichnung. Es wird eine Mischung aus Musik, Theater, Tanz und Video. Ich glaube, dass Pop- und Rockmusik heutzutage Geschichten von Bedeutung erzählen. Nicht nur die klassische Musik vermittelt Sinn und Werte. Pop und Rock können das auch, sind gleichzeitig unterhaltsam und reißen die Leute mit. Bei der Ruhrtriennale versuche ich, den Blick auf das zu erweitern, was Musiktheater heute alles sein kann. Es gibt viele Konzeptalben aus den 1970ern oder von zeitgenössischen Künstler:innen, die wichtige Themen ansprechen. Ich will andere Regisseur:innen dazu inspirieren, sich in diese Welt hineinzubegeben und aus dieser Musik heraus, Figuren und Geschichten zu entwickeln, die etwas über die Menschen im Hier und Heute und die Menschen von Morgen zu erzählen.
PJH: A View From The Bridge war die erste Produktion, die ich vor langer Zeit von dir in London gesehen habe. Ich war vollkommen überwältigt. Nie zuvor hatte ich so etwas eindringliches gesehen. Diese Schlichtheit, gleichzeitig die Kraft, die davon ausging, fand ich wunderschön. Es wirkte so, als hättest du das Notwendige auf ein absolutes Minimum zurückgefahren. Und wenn du mit großem Gestus gearbeitet hattest, dann war das auch wirklich groß. Seitdem habe ich dein Schaffen verfolgt. Und im Laufe der Jahre sind wir Freunde geworden. Ich war überglücklich, mit dir 2019 an All About Eve fürs West End arbeiten zu können. Da habe ich zum ersten Mal Songs für Schauspieler:innen geschrieben. Das war meine Tür in die Theaterwelt. Und ich liebe die Arbeit im Theater – im Moment sogar fast mehr, als alles andere, weil ich es so befreiend finde. Was ich an deiner Arbeit liebe, ist, dass du keine Experimente scheust und dich angstfrei hineinbegibst, um dem zu folgen, was du erforschen willst.
IVH: Bei der Arbeit an I Want Absolute Beauty bewege ich mich außerhalb meiner Komfortzone. Es gibt eine Schauspielerin auf der Bühne, aber keine einzige Zeile Text – nur die Songs und die Musik. Für mich ist das eine neue Art, auf der Bühne Geschichten zu erzählen.
PJH: Der einzige Weg, vorwärts zu gehen und Großartiges zu erschaffen, führt ins Unbekannte – was oft mit Angst verbunden ist. Trotzdem muss man Vertrauen haben und es einfach machen.