Interview: Jan Martens
Marc Blanchet: FUTUR PROCHE ist der Nachfolger zweier Stücke: Any attempt will end in crushed bodies and shattered bones, ein Ensemblestück, das für das Festival d’Avignon 2021 produziert wurde, und Ihr Solo Elisabeth gets her way, das der großen Cembalistin Elisabeth Chojnacka gewidmet ist…
Jan Martens: Das Cembalo in FUTUR PROCHE ist ein maßgeblicher Berührungspunkt. Ich habe Góreckis [Henryk Mikołaj Górecki] Cembalokonzert in Any attempt will end in crushed bodies and shattered bones verwendet. In dem Stück ging es um politisches und soziales Engagement, aber auch um das Konzept von Immobilität auf der Bühne. Ich habe nach einer Musik gesucht, die Aufstand und Rebellion ausdrückt. Man kennt diesen polnischen Komponisten vor allem für die authentische seelische Dimension seines Schaffens. Auf dem Höhepunkt der Solidarność-Auseinandersetzungen beendete er seine akademische Laufbahn. Ihm war die Regierung zu interventionistisch. Daraufhin komponierte er ein Cembalokonzert im Geiste des amerikanischen Minimalismus – eine Referenz, die dem kommunistischen Regime missfiel. Ich fand ein Video von der ersten Person, die dieses Werk aufgeführt hat: Elisabeth Chojnacka. Ihre Persönlichkeit, ihre Darbietung und ihre Geschichte haben mich in ihren Bann gezogen. Da beschloss ich, ein Solo über sie zu machen, Elisabeth gets her way, und vertiefte mich in das Cembalo-Repertoire. Heute arbeite ich mich durch das zeitgenössische Repertoire, mit 15 Tänzer:innen vom Opera Ballet Vlaanderen – das Königliche Ballett von Flandern – zwei Kindern und der polnischen Cembalistin Goska Isphording.
Warum fasziniert Sie dieses Instrument?
Ich arbeitete während der Pandemie an dem Solo Elisabeth gets her way. Weil so viele Aufführungen verschoben oder abgesagt worden waren, konnte ich mehr Zeit damit verbringen, ein Instrument kennenzulernen, das man oft ausschließlich der Barockmusik zuordnet. Durch Elisabeth Chojnacka entdeckte ich, dass es viele zeitgenössische Werke für Cembalo gibt. Eine interessante Feststellung ist, dass es oft weibliche Musikerinnen sind, die sehr eng mit der Aufführung dieser zeitgenössischen Stücke verbunden sind. Goska Isphording setzte diese Tradition der Auftragswerke fort, ohne voreingenommen zu sein oder sich auf eine bestimme Ästhetik festzulegen. Das Repertoire für Cembalo weist eine Entwicklung der permanenten Neuerfindung auf. Dieses Konzept der Erneuerung wurde zum zentralen Thema von FUTUR PROCHE, dank jener Türen, die sich in eine unbekannte musikalische Welt geöffnet hatten. Ein Repertoire im Laufe der Zeit neu zu erfinden, so wie wir vielleicht versuchen, unsere Gesellschaft in Zeiten von Kilmawandel und Covid zu verändern, ist das Thema von FUTUR PROCHE.
Wonach suchen Sie im Cembalo, wenn es um den choreographischen Schöpfungsprozess geht?
Der Klang eines Cembalos wird oft als sehr metallisch beschrieben – perfekt für eine „futuristische Atmosphäre“ oder etwas, das sich wie ein Videospiel aus den 1980ern anhört. Dementsprechend sind die Stile von Elisabeth Chojnacka und Goska Isphording zutiefst rhythmisch. Das hab ich sofort als einen Spiegel meiner selbst empfunden: ein rhythmischer Tänzer. Die Geschwindigkeit, die man in vielen Stücken fühlt, spricht meine Lust an, mit verschiedenen rhythmischen Tänzen zu experimentieren. Als ich mich für zeitgenössische Cembalo-Kompositionen öffnete, veränderte sich etwas. Bis dahin gab es immer zuerst ein tonangebendes Konzept oder Thema, erst dann kam der Soundtrack – meistens Pop-Musik – dazu. Im Moment führt die Musik selbst zum choreographischen Ausdruck und dann in eine thematische Auseinandersetzung. Für mich ist das eine radikal neue Art zu arbeiten.
Sie haben angeboten, dieses Repertoire mit einer Ballettkompanie zu teilen, 38 Jahre nachdem die TänzerIinnen der Opéra de Paris im Cour d’honneur waren. Was haben Sie vor?
Any attempt will end in crushed bodies and shattered bones wurde mit 17 Tänzer:innen jeden Alters realisiert. Ich habe so mit dem Ensemble gearbeitet, wie ich das beim Ballett machen würde, habe die Tänzer:innen zu Gruppenbewegungen zusammengeführt, hatte akkurate Kostüme und eine sehr lesbare Ästhetik. Ich stelle mir nie vor, wie ein Stück beim Publikum ankommt, aber dieses – vor allem auf seinem Höhepunkt, beim finalen Tanz – wurde als Botschaft der Hoffnung gelesen. Ich arbeite mit 15 Tänzer:innen vom Opera Ballet Vlaanderen, die einen sehr spezifischen Tanzstil – dementsprechend auch eine bestimmte Arbeitsweise und Art zu touren – pflegen. Ich habe mich entschieden, alles nochmal umzudrehen: Ich arbeite, als wären sie Teil einer Kompagnie, ignoriere die Regeln des Balletts – die koordinierten, synchronen Bewegungen – und bringe stattdessen ihre individuellen Körper, ihre Einzigartigkeit, zum Vorschein, als eine gleichwertige Basis für alle „interprètes“ [Darsteller:innen]. Das ist so ein schönes französisches Wort. Im Niederländischen ist der Begriff, der dem am nächsten kommt, ein Wort, das „Ausführende“ bedeutet. Ich habe auch beschlossen, das ökonomische Modell auf den Kopf zu stellen: Verzicht auf komplizierte Bühnenbilder, um leichter touren zu können, und die Wiederverwertung von Kostümen.
Erlaubt Ihnen diese Transformation Ihres Schaffens, einen neuen Blick auf die Welt zu vermitteln?
Kein Solo, kein Duett! FUTUR PROCHE beschäftigt sich mit unserer Fähigkeit zur Entwicklung, Erneuerung und möglichen Transformation im Angesicht einer weltweiten Krise. Ich wollte diesen Krisenzustand mit einem rohen, rauen und wilden Tanz auf die Bühne bringen. Ich habe die Choreographie mit weniger Gelassenheit, wenn nicht sogar weniger Hoffnung, gestaltet als bei Any attempt will end in crushed bodies and shattered bones. Die drohende Klimakatastrophe ist eines unserer modernen Dilemmata, konkrete Maßnahmen dahingehend werden jedoch kontinuierlich aufgeschoben. FUTUR PROCHE ist weder spekulativ noch Fiktion: Wir befinden uns längst in einer dramatischen Lage: Einige unserer derzeitigen Machthaber:innen verhalten sich, als wären sie unantastbar, und beschleunigen mit ihrem offensichtlichen Zynismus einen Verschmutzungsprozess. Wir sollten aber auch unsere eigenen Widersprüche nicht vergessen, wie zum Beispiel unser Konsumverhalten! Wissend um die Vielfalt dieser Fragen, die aufkommen, wenn man eine Erneuerung in Angriff nimmt, und die ihren Ausdruck in der Welt der Musik finden – in der Diversität und der Geschichte des Cembalos – habe ich diese Choreographie als eine Übung in Demokratie konzipiert. Die Tänzer:innen des Opera Ballet Vlaanderen wurden nicht wegen ihrer Fertigkeiten und Expertise eingeladen. Die Kinder und die Cembalistin können mitten unter ihnen stehen, ohne sofort herauszustechen.
Welche anderen Aspekte zeichnen FUTUR PROCHE aus?
Alle Darsteller:innen sind auf der Bühne. Ich habe die Tradition von Auftritten und Abgängen, wie sie im Ballett vorkommen, abgeschafft. Das ist eine spannende Veränderung für die Tänzer:innen. So erleben sie eine fortwährende Präsenz auf der Bühne, selbst wenn sie nicht die ganze Zeit Teil einer Choreographie sind. Da sein, fühlen, in einem Zustand der Inaktivität, des Wartens und der Unbeweglichkeit – all das nährt diesen Wunsch nach Neuerfindung. Ich spreche nicht immer gern in ästhetischen Kategorien, aber FUTUR PROCHE entstand als Antwort auf eine Sehnsucht nach einer bestimmten Brutalität zwischen Krise und Rohheit. Das zentrale Konzept dabei – inspiriert von der Cembalo-Musik – ist dieser Begriff von „Präsenz“. Um all diese Körper als eine große gleichwertige Gruppe zu zeigen, mied ich bewusst die strengen Formen, die charakteristisch für das Ballett und sein Bühnenbild sind. Zum Beispiel die Kostüme. Oft werden sie eigens für ein Stück angefertigt und auf den Körper geschneidert. Wir sind tatsächlich alle Schränke des Opera Ballet Vlaanderen durchgegangen! Wir fanden Kostüme aus anderen Produktionen, die schon getragen, abgenutzt und sogar verschmutzt waren. So eine Entscheidung erlaubt es dem Publikum, Körper zu sehen, die Menschen gehören – anstatt Körper von Darsteller*innen, die lediglich Ausdruck von in Form gebrachter Perfektion sind. „Lockert“ man das Kostüm, nimmt der Körper eine andere Gestalt an – es verändert sein Bewegungsrepertoire. Der Wunsch nach einem Wechsel ist keine fixe Idee um ihrer selbst willen. Viele Künstler:innen wollen, indem sie Menschen auf eine Bühne bringen, die Bühne in eine andere Welt verwandeln. Ich fremdle mit diesem demiurgischen Impuls. Diese Arbeitsweise, die zum Ziel hat, gemeinsam eine neue Idee vom Menschsein zu finden, bringt den Wunsch, den viele Ballettkompanien haben, zum Ausdruck, mit neuen Choreograph:innen zusammenzuarbeiten.
Wie haben Sie die zeitgenössischen Cembalo-Stücke für FUTUR PROCHE ausgewählt?
Bildung durch Kunst wird in Belgien und anderswo oft abgelehnt. Ich denke aber, dass Kunst immer weiterbildet. Ich habe dank Elisabeth Chojnack, der großen Lehrmeisterin, die zeitgenössische Cembalo-Musik entdeckt und daraufhin meine eigenen Nachforschungen angestellt, um dieses – verglichen mit dem Repertoire für Klavier – kaum bekannte Repertoire zu entdecken. Heutzutage ist das Cembalo eine Nische innerhalb einer Nische und sofort stellt sich die Frage, was zum musikalischen Kanon gehört. Ich habe damit angefangen, mir eine hübsche Sammlung von Secondhand-Platten anzulegen, nachdem ich ein paar Texte von Elisabeth Chojnacka in einer Doktorarbeit der Sorbonne gelesen hatte, worin ich eine beeindruckende Liste ihrer Auftragswerke fand. Dieses Repertoire hat etwas prickelndes: Es ist riesig, dennoch kann man es eingrenzen. Goska Isphording, die das Cembalo mit dem Synthesizer verbinden kann, öffnete ihre musikalische Sammlung für meine Recherche und erlaubte mir so, weitere Schätze zu entdecken. Da gibt es Ligetis Studenten Erkki Salmenhaara oder ein Stück von Anna S. Thorvaldsdóttir, die die Moderne mit barocken Texturen kombiniert, oder das eher experimentelle Werk von Aleksandra Gryka. Jene Stücke – zusammen mit denen von Dan Locklair, Janco Verduin, Pēteris Vasks oder den spielerischen von Graciane Finzi – zeigen eine kompositorische Vielfalt, die stark zu unterschiedlichsten Tänzen anregt.