Im Gespräch mit Eline Arbo, der Regisseurin von Haugtussa

Britta Schünemann: Die Geschichte von Haugtussa ist ein Nationalheiligtum in Norwegen. Welche Aspekte machen sie dort so besonders und so wichtig? 

Eline Arbo: Haugtussa ist eine Geschichte, die das beschwerliche Leben im ländlichen Norwegen um das Jahr 1885 herum anschaulich schildert. Sie verbindet auf einzigartige Weise die brutale Realität dieser Zeit mit mythologischen Elementen und magischen Naturwesen, die tief in der norwegischen Kultur verwurzelt sind. 

Der Autor Arne Garborg hat diese Geschichte auf Nynorsk geschrieben – einer Variante der norwegischen Sprache, die essentiell war für Norwegens kulturellen und politischen Weg in die Unabhängigkeit. Zudem verstärkt die Musik, die Edvard Grieg für dieses Werk komponiert hat, seine Bedeutung, denn Grieg ist selbst ein Nationalheiligtum in der norwegischen Kulturgeschichte. 

Haugtussa ist der Spitzname von Veslemøy, den ihr die Gemeinde gegeben hat. Was ist ihre Rolle in der Gemeinde und warum heißt sie Veslemøy? 

Veslemøy ist ein Mädchen mit einer blühenden Fantasie. Ihr Talent, Geschichten zu erzählen, fesselt die Jugend in ihrer Gemeinde. In einem Schlüsselmoment am Beginn der Geschichte bekommt sie Besuch von dem Geist ihrer verstorbenen Schwester und sie bekommt die Gabe der Hellsicht verliehen, was sie dazu befähigt, Dinge jenseits des Gewöhnlichen wahrzunehmen – darunter Tote und mythische Kreaturen, die in der Natur leben. Diese besondere Fähigkeit sorgt dafür, dass man sie als seltsam wahrnimmt, und endet mit ihrer sozialen Ausgrenzung. Der Spitzname „Haugtussa“ bedeutet Trollmädchen. Er betont ihre marginalisierte Rolle und spiegelt das Unbehagen der Gemeinde angesichts ihrer besonderen Begabung wider sowie ihren Status als Außenseiterin. 

„Die Erzählung zeigt die Verwicklungen des Erwachsenwerdens und die Notwendigkeit, sowohl das Licht als auch die Dunkelheit anzunehmen, um das Leben in vollem Umfang zu spüren.“
Eline Arbo

Die Geschichte der Haugtussa beschreibt auch den Prozess des Erwachsenwerdens, verknüpft mit dem Kampf gegen dunkle Mächte. Wie wird Veslemøys Entwicklung gezeigt? 

Veslemøys Weg ist eng mit ihrem Erwachsenwerden verknüpft. Ihre erste Begegnung mit dem Trollkönig symbolisiert ihr sexuelles Erwachen, was zugleich aufregend wie einschüchternd ist. Die Geschichte ergründet zudem auch dunklere Themen wie beispielsweise mentale Gesundheit, Depression, Einsamkeit und Suizidgedanken. 

Am Ende der Geschichte ist Veslemøy zutiefst depressiv, nachdem sie von ihrer großen Liebe verlassen worden ist. Sie steht vor einer wichtigen Entscheidung: Soll sie sich den dunklen Mächten unterwerfen – symbolisiert durch den Trollkönig – und in die Berge verschwinden oder weiterhin mit ihren inneren Dämonen kämpfen. Diese Entscheidung spiegelt die norwegische Folklore der Mythologie wider, in der in die Berge zu verschwinden oft ein Symbol für Selbstmord war. Die Erzählung zeigt die Verwicklungen des Erwachsenwerdens und die Notwendigkeit, sowohl das Licht als auch die Dunkelheit anzunehmen, um das Leben in vollem Umfang zu spüren.  

Was hat Sie dazu angeregt, die Geschichte von Haugtussa wiederzuerzählen? 

Die Geschichte von Haugtussa ist verlockend, denn sie verknüpft fantastische Elemente mit zutiefst existentiellen Themen. Es geht nicht allein um diese magische Welt, sondern auch um Veslemøys Ringen mit dem Gefühl, eine Außenseiterin zu sein, und ihre Reise durch universelle Erfahrungen in jungen Jahren, wie beispielsweise die erste Liebe und Liebeskummer. Die Geschichte findet bei denjenigen Anklang, die mit ähnlichen Problemen kämpfen wie der Sehnsucht nach Erkenntnis und Mitgefühl. Sie betont, wie wichtig es ist, sowohl die hellen als auch die dunklen Aspekte im Leben anzunehmen – eine mächtige und wichtige Botschaft. 

Neben Edvard Griegs Liederzyklus wird es neu komponierte Musik von Thijs van Vuure geben. Wie kam es zu der Entscheidung, neue Musik für diese Produktion zu komponieren? 

Grieg hat für lediglich acht von Garborgs über siebzig Gedichten Musik komponiert. Seine Kompositionen sind tief in der traditionellen norwegischen Volksmusik verwurzelt: Er unternahm ausgedehnte Reisen durch Norwegen und hörte aufmerksam hin, wie die Bauernmädchen sangen, wie sie das Vieh riefen und wie sie traditionelle Melodien interpretierten. 

Für die mythologische und die magische Dimension der Geschichte jedoch hatte er keine Musik komponiert. Um Haugtussa in vollem Umfang zu erzählen, war es unentbehrlich, eine weitere musikalische Ebene hinzuzufügen. Thijs van Vuure hat einen dunkleren, elektronischen Soundtrack geschaffen, der die Trolle und die mythologischen Elemente abbildet. Diese Musik vervollständigt Griegs folkloristisch inspirierten Stücke und offeriert so eine reichhaltigere, umfassendere Darstellung der Erzählung. Die Gegenüberstellung von traditionellen und modernen Musikstilen erlaubt es, die Themen der Geschichte in ihrer Tiefe zu erkunden, und verstärkt die gesamte Erzählstruktur. 

„Der Industrieschauplatz generiert ein Gefühl vom klein sein und von Verletzlichkeit im Angesicht der überwältigenden Macht der Natur – was sich perfekt in das einfügt, was die Geschichte erforscht: die Zerbrechlichkeit und Widerstandsfähigkeit des Menschen.“
Eline Arbo

Haugtussa ist Edvard Griegs einziger Liederzyklus. In Ihrer Produktion werden seine Lieder von Mezzosopranist:in Adrian Angelico gesungen. Welche musikalische Charakterisierung können wir von Adrians Interpretation erwarten? 

Adrians Darstellung ist außergewöhnlich in ihrer erzählerischen Qualität und fügt sich perfekt in unser Format ein. Wo Grieg nur einen Bruchteil der Gedichte vertont hat, wird es in unserer Bühnenadaption zusätzliche Gedichte geben, um weitere, von Schauspieler:innen verkörperte Figuren darzustellen. 

Adrian besitzt ein tiefes Verständnis für den theatralen Kontext und sticht durch den Gesang als Erzählfigur heraus. Adrians Darbietung ist harmonisch eingebettet in die Bewegungen, Schauspieler:innen und Szenen und dient so als Veslemøys innere Stimme, drückt Gedanken und Gefühle aus, die sie nicht selbst artikulieren kann. Dieser Ansatz macht das Narrativ noch reichhaltiger und lässt Lied und Schauspiel nahtlos ineinander übergehen. 

Was für eine Welt zeigt Arne Garborg in Haugtussa? 

Garborg porträtiert die harte Realität des Landlebens in Norwegen zu einer Zeit großer Armut und Mühsal für viele Bauern. Veslemøy und ihre Mutter leben in Armut. Die Abwesenheit ihres Vaters deutet an, dass er vielleicht Selbstmord begangen hat – ein Tabuthema zu der Zeit. Diese Auslassung spiegelt die gesellschaftlichen Normen dieser Zeit wider, als jene, die sich ihr Leben nahmen, nicht in geweihter Erde bestattet wurden. 

Garborgs Beschreibungen der Jæren Landschaft mit ihren schroffen Bergen, dem ungestümen Wetter, das vom Meer herkommt, und den harten Lebensbedingungen heben die Mühsal des Lebens in dieser Region hervor. Die Erzählung vermittelt sehr lebendig dieses Gefühl von Isolation und Elend, das das ländliche Leben im Norwegen des späten 19. Jahrhunderts geprägt hat. 

Viele der folkloristischen Elemente in Haugtussa werden von Schauspieler:innen vom Nationaltheatret Oslo verkörpert. Wie werden sie diese Welt schildern und abbilden? 

Wir haben folkloristische Elemente integriert, um die Geschichte im kulturellen Kontext von Jæren zu verwurzeln. Die Kostüme sind von der Bunad inspiriert – der traditionellen norwegischen Volkstracht, die zu besonderen Anlässen mit Stolz getragen wird. Solche Kostüme werden oft über viele Generationen hinweg weitergegeben, was ihnen eine Ebene von Authentizität und kultureller Bedeutung verleiht. 

Um die existentiellen Themen der Geschichte hervorzuheben, haben wir uns für ein minimalistisches Bühnenbild mit einer Lichtinstallation entschieden. Durch diesen abstrakten Ansatz können wir die folkloristischen Elemente mit dem minimalen modernen Teil in Einklang bringen und generieren so eine visuell eindrucksvolle sowie thematisch reichhaltige Arbeit. Die Integration von traditionellen und zeitgenössischen Elementen in das Storytelling, die Kostüme, das Licht und die Musik zielen darauf ab, die Geschichte in einer neuartigen, einnehmenden Art und Weise zu zeigen. 

Wie sind Sie mit dem Wissen, dass die Premiere in der Jahrhunderthalle Bochum stattfinden wird, an diese Geschichte herangegangen? Wo haben Sie eine spezifische Verbindung zwischen der Geschichte und diesem Industriegelände wahrgenommen? 

Der raumgreifende, imposante Charakter der Jahrhunderthalle Bochum stellt eine mächtige Kulisse dar, die die Themen von Haugtussa ergänzt. Das weitläufige Gelände spiegelt die Intensität der Naturlandschaften, die Garborg beschreibt, wider. Der Industrieschauplatz generiert ein Gefühl vom klein sein und von Verletzlichkeit im Angesicht der überwältigenden Macht der Natur – was sich perfekt in das einfügt, was die Geschichte erforscht: die Zerbrechlichkeit und Widerstandsfähigkeit des Menschen. Diese einmalige Kulisse erlaubt eine weitaus intensivere und wirkungsvollere Präsentation der Geschichte als ein traditioneller Theaterraum. 

In drei Worten: Wie würden Sie die Welt von „Haugtussa“ für das Publikum beschreiben?  

Magisch, mächtig und menschlich. 

Autor: Britta Schünemann | 10.9.2024